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Schreiben, lernen, Poesie machen

Mit dieser Aufforderung werden die Besucher*innen in die Ausstellung hineingezogen. Anpacken, Mitspielen und Ausprobieren – so ist ein weiter Bereich im Marbacher Literaturmuseum gestaltet. Daneben sind dann die vielen, vielen Beispiele an Briefen, Entwürfen, Tagebüchern und Notizen von Schriftstellern, Musikern, Künstlern zu betrachten. Und da es Schreibwerke aus ganz unterschiedlichen Epochen sind, muss man sich schon anstrengen, um einige davon wenigstens in Ansätzen lesen zu können.

So z.B. das handschriftliche Gedicht „Vorfrühling“ von Rilke:

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.

Allein an diesem Blatt ist schon bemerkenswert, dass sich die Schrift der Überschrift und die des Gedichtes selbst unterscheiden. Eine Regel, die man immer wieder findet: Überschriften und auch Eigennamen werden in lateinischer Schrift und die Texte selbst in deutscher Schrift geschrieben.

Auch wenn in dem Begleitbuch zur Ausstellung das Mitmachen hervorgehoben wird, so geht man zunächst an vielen Glasvitrinen entlang, entdeckt bekannte Namen und staunt über die Handschriften und das Beiwerk, denn häufig sind die Texte auch grafisch, spielerisch, bunt gestaltet, mit Skizzen versehen oder sogar zu fast architektonischen Plänen gestaltet. Mit tausend Eindrücken und Ideen schleicht man sich durch die Reihen von Exponaten – anfassen? Nein hier nicht.

Aber ob es nun dieser eher gediegene Ausstellungsteil oder daran anschließend der Mitmachteil ist, eines wird ganz deutlich: Handschrift ist lebendig und hat ihre ganz eigene Wirkung: persönlich, charakteristisch, individuell und merkwürdig im doppelten Sinne. „Hands on“ ist bewusst aus der einfachen Idee geboren: „Man lernt etwas, indem man es tut. Man versteht etwas, indem man es anfasst. Man begreift etwas, indem man danach greift. Die italienische Reformpädagogin Maria Montessori hat daraus eine ganze Reihe gebildet: Begreifen kommt von Greifen, Verstehen kommt von Stehen. Was nicht in den Sinnen war, kommt nicht in den Verstand.“ (Zitat aus dem Vorwort des Begleitbuches).

Und sehr schnell sind wir dann beim Schreiben und den Werkzeugen: Das Schreiben mit Gänsekiel, Stahlfeder, Füller, Griffel, Kreide, Kuli, Buntstift und Bleistift ist mit fließenden, kreisenden oder eckigen, malenden oder rührenden Bewegungen verbunden und mit dem Arm und der Hand und den Fingerspitzen. Und jedes Instrument hat seine spezifischen Eigenschaften, benötigt die eigene Behandlung und Handhabung. Das Schreiben mit jedem Instrument braucht seine Zeit (nicht nur für´s Üben). Die Entwicklung der Werkzeuge ist zudem streng mit den Anforderungen an das Schreiben – also dem Zweck des Schreibens verbunden. Je weniger Zeit zur Verfügung steht, desto schneller muss man mit dem Werkzeug arbeiten können. Wieviel Zeit benötigt der Schreiber, der mit dem Gänsekiel arbeiten musste? Zunächst das Werkzeug in die richtige Form bringen: die Feder härten, zuschneiden, in die Tinte tunken, Farbe aufnehmen, schreiben, Farbe aufnehmen, schreiben usw.usw. . Mit der Stahlfeder fiel die Vorbereitung nahezu weg. Einsetzen, in Fluss bringen: eintauchen in die Tinte und Schreiben. Dann kommt mit dem Füllfederhalter die große Zeitersparnis: das Eintauchen und Tinte nehmen entfällt – Zeit gespart, Mit dem Kugelschreiben entfällt auch das Nachtanken des Füllers. Und so setzt sich die Entwicklung fort bis hin zur Schreibmaschine (oh, weh, vertippt !!!) und zum Computer (oh ein Fehler, kein Problem – einfach korrigieren).

Aber die Entwicklung geht auch weg von der Hand. Bald werden die Schreibsysteme den diktierten Text fehlerfrei transformieren. Und dann keine Post mehr, das Geschriebene ist sofort am anderen Ort. Wieder Zeit gespart. Und doch passiert auf diesem Wege eines: es wird immer rationaler, unpersönlicher, emotionsloser – die Tastatur nimmt zwar noch die Kraft des Schreibenden auf, neutralisiert sie aber und macht daraus einen lesbaren Text. Eine gute Lesbarkeit spart Zeit beim Lesen. Und was gewinnen wir? oder anders gesprochen: was verlieren wir mit der „Zeit“? Das ist eine lange und intensive Diskussion wert.

 

 

 

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