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DenkBar am Mittwoch,17.03.2021, um 19:30 Uhr – nur online

Dokumentation der Diskussion hier als Nachlese:

Zur Einstimmung und als Ankündigung

Eigentlich ist es ein Zitat von Cesare Pavese: Der Reichtum des Lebens besteht aus vergessenen, aber gemeinsamen Erinnerungen. Pascal Mercier stellt es etwas um und formuliert: Der Reichtum des Lebens besteht aus Erinnerungen, vergessenen.

Pascal Mercier  führt dann weiter aus: „In der Erinnerung sehe ich die Dinge zum erstem Mal richtig – so, wie sie sind. Weil ich mich ihnen in der Stille ganz konzentriert widmen kann, unabhängig von de sonstigen Geschehen, das sie bei der ersten Begegnung umspült hat. … Ich löse es aus den übrigen Eindrücken heraus und betrachte es ganz ruhig – wie zum ersten Mal. Die erinnerte Gegenwart als die besonnene Gegenwart, die nicht nur Wucht des Eindrucks ist, sondern Erkenntnis.“

Sind es die Erinnerungen, die den Reichtum des Lebens ausmachen? Oder was ist der Reichtum des Lebens?

Sind es unsere individuellen Erlebnisse, Sichtweisen, die sich in Momenten uns erschliessen – und die wir erinnern. Oder vielleicht sogar neue Sichtweisen erlangen durch die Betrachtung mit Abstand und Ruhe.

Da gibt es auch noch eine Geschichte vom Reichtum unseres Lebens

Eines Tages nahm ein Mann seinen Sohn mit in ländliches Gebiet, um ihm zu zeigen, wie arme Leute leben. Vater und Sohn verbrachten einen Tag und eine Nacht auf einer Farm einer sehr armen Familie. Als sie wieder zurückkehrten, fragte der Vater seinen Sohn: „Wie war dieser Ausflug?“ „Sehr interessant!“ antwortete der Sohn. „Und hast du gesehen, wie arm Menschen sein können?“ „Oh ja, Vater, das habe ich gesehen.“ „Was hast du also heute gelernt?“ fragte der Vater. Und der Sohn antwortete: „Ich habe gesehen, dass wir einen Hund haben und die Leute auf der Farm haben vier. Wir haben einen Swimmingpool, der bis zur Mitte unseres Gartens reicht, und sie haben einen See, der gar nicht mehr aufhört. Wir haben prächtige Lampen in unserem Garten und sie haben die Sterne. Unsere Terrasse reicht bis zum Vorgarten und sie haben den ganzen Horizont.“ Der Vater war sprachlos. Und der Sohn fügte noch hinzu: „Danke Vater, dass du mir gezeigt hast, wie arm wir sind.“

 

aus Rainer Maria Rilke  „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“

Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muss man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muss die Tiere kennen, man muss fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muss zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah, – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, an die Eltern, die man kränken musste, wenn sie einem eine Freude brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude für einen anderen -), an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen, – und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muss Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der andern glich, an Schreie von Kreissenden und an leichte, weiße, schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden muss man gewesen sein, muss bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, dass man Erinnerungen hat. Man muss sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muss die große Geduld haben, zu warten, dass sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.

Zusammenfassung aus der Diskussion

Im Buch Pascal Merciers „Das Gewicht der Worte“ dreht sich eine Diskussion darum, ob das Komma in diesem Gedanken richtig ist oder eigentlich weggelassen werden sollte:

„Der Reichtum des Lebens besteht aus Erinnerungen, vergessenen.“

Es geht zurück auf ein Zitat von Cesare Pavese: Der Reichtum des Lebens besteht aus vergessenen, aber gemeinsamen Erinnerungen.

Es geht vielleicht nicht darum etwas auszugraben, sondern eher die Frage, wie gehen wir mit Erinnerungen um, welche Bedeutung haben sie. Sind Erinnerungen und Vergessen nicht eigentlich ein Widerspruch.

Der Reichtum des Lebens besteht aus Erinnerungen: positive, negative, schmerzliche. Manchmal werde ich darauf hingewiesen, dass wir etwas Gemeinsames erlebt haben, aber ich erinnere mich nicht daran. Es ist irgendwie nicht nachhaltig gewesen: vergessen. Und ich kann es nicht mehr zurückholen, es ist nicht da. Andere Ereignisse sind in der Erinnerung so präsent, als wären sie gestern gewesen. Beispiel: Erinnerung an die Schulzeit, an bestimmte Lehrer, an Ereignisse. Nachhaltig eingeprägt. „Das ist so präsent wie gestern!“

J: Klärungsbedarf: 1. Erinnerungen – aktivierte Erinnerungen; 2. Vergessene Erinnerungen, die man durch bestimmte Umstände zurückbekommt; 3. Vergessene Erinnerungen, die weg sind – damit kann ich nichts anfangen. Die 2. sind vielleicht in unserem Gedächtnis eingespurt und ich kann diese Spur jederzeit finden. Welche Erinnerungen könnten durch 3. gemeint sein.

B: Es sind vielleicht tatsächlich die Erinnerungen, die mich geprägt haben, die ich aber nicht mehr bewusst habe auch nicht mehr hervorholen kann. Sie sind nicht so nachhaltig, dass ich Bilder damit verbinde, die aber trotzdem in mir wirken, die mich trotzdem geprägt haben – mein Reichtum.

J: also das Unbewusste, das ja weiter in mir wirkt.

R: Auf der anderen Seite könnten wir sagen, rein statistisch erinnern wir uns die Masse nicht, aber wir haben sie erlebt. Der Reichtum besteht als auch in denen, die wir nicht erinnern, aber die wir erlebt haben. Es ist nicht wichtig, sie konkret zu erinnern. Wichtig ist, den Augenblick zu erleben, ihn zu leben. Das ist der Reichtum. Es sind die Momente, die wir gelebt haben, auch wenn wir sie später nicht mehr erinnern. Sie haben uns geprägt und prägen uns. Es ist ein Teil meines Lebens, der Reichtum meines Lebens.

J: Wenn Du Dich erinnerst, dann ist es präsent, wenn Du Dich nicht erinnerst, dann ist es Prägung.

B: Frage ist, was sind Erinnerungen. Ist es das, was präsent ist, auch bildlich und in gewissen Details. Oder ist es einfach: oh damals war etwas. Ich weiß zwar nicht mehr genau, wie die Umstände waren, aber ich erinnere mich noch an die Atmosphäre, an die Gefühle, die damals waren, ohne dass sich sie örtlich oder zeitlich einordnen kann. Aber wir haben noch den Eindruck, was wirksam war.

J: Man kann sich an eine Gefühlslage erinnern, ohne die Details zu erinnern. Vielleicht kommt dann auch einfach bei einer Gelegenheit hoch, das habe ich schon ähnlich erlebt oder gesehen, ohne es noch konkret zu wissen. Ohne genau definieren zu können, wo es passiert ist.

K: Unterschied zwischen Moment des Erlebens und Erkenntnis im Nachhinein in Verbindung setze. Erlebnisse in Zusammenhänge bringe und daraus den Sinn erkenne. Anderes Bild – ein Kind kommt auf die Welt, Synapsen locker verbunden, durch Erfahrungen entstehen die Verbindungen wie Autobahnen. Und durch die Verknüpfungen und des Erlebens entstehen neues Erleben und Erinnern.

B: Es hat sicher etwas mit Verknüpfungen zu tun, aus dem Erinnern und Erleben entsteht eine neue Bedeutung. Es fokussiert zu einem Kern, neue Verbindungen.

J: Begriffe ergänzen: Reichtum angesprochen, es gibt auch Mangel, Not, die mit Erinnerungen verbunden sind. Vielleicht auch nicht der Reichtum, sondern die Armut, die wir erinnern und das Leid, das man damit verbindet und durchgemacht hat. Vielleicht wird man sich manchmal hüten, sich zu erinnern, sich zu erinnern, weil damit auch das Leidvolle hochkommt.

E: Tolle Erlebnisse vergisst man nicht. Irgendwann behält man nur das Tolle. Was mir in letzter Zeit immer auffällt sind die Erinnerungen an Kleinigkeit, an die man sich plötzlich wieder erinnert. (als Beispiel erzählt er von einem Treffen mit Uralt-Kommunarden). Jeder hat so seine Fragmente, an die er sich dann vielleicht besser erinnert. Ob das mit Reichtum zu tun hat??

J: Vielleicht hat unser Gehirn eine Schutzfunktion eingebaut, dass es in der Lage ist, unangenehme Erinnerungen zu unterdrücken. Ein Beispiel: es ist bekannt, dass Soldaten, die die schlimmsten Situationen erlebt haben, nie davon erzählt haben, vielleicht auch nicht mehr erinnert. Vielleicht auch Verdrängung.

R: es ist wohl so, dass man immer die Kindheitsprägungen mit sich trägt. Alle Erlebnisse, die wir haben, prägen uns ja irgendwie, hat eine Wirkung auf uns.

J: Man könnte de Satz auch so verstehen: der Reichtum des Lebens sind nur die Ereignisse, an die wir uns erinnern.

R: das wäre furchtbar. Das Jetzt ist wichtig.

T: Mir ist die Diskussion etwas zu eng gefasst. Für mich ist es mehr. Die Schutzfunktion ist bestimmt da. Das Gehirn speichert nicht alles, oder sortiert und filtert. Jeder erinnert sich anders, weil er andere Erfahrungen gemacht hat. Das hat mit Erfahrungen zu tun. Und die Erfahrungen schreiben wir in unsere Seele ein. Ich habe Erlebnisse gehabt, Déjà-vus-Erlebnisse gehabt. Ich wusste, dass ich an dem Ort schon war … (hier folgt das persönliche Erlebnis von einem Bild in Verbindung mit der Reise mit seinem Sohn nach Auschwitz). Vergessene Erinnerungen sind in uns eingeschrieben. Wenn wir geboren werden, sind schon Einschreibungen und der Pfad geprägt. Es sind Anker in uns. Und es macht uns zu der Person, die wir heute sind. Wir haben in uns Erfahrungen, die lange, lange zurückliegen.

B: Ich habe auch den Gedanken, dass man etwas erbt. Ich fühle mich stark nach Kreta gezogen. Das hat nicht nur mit dem Land zu tun, sondern auch mit der Familiengeschichte. Mein Vater war im Krieg auf Kreta stationiert. Er hat zwar darüber gesprochen, aber eher im Sinne Abenteuer seine positive Erlebnisse und nicht über die schlimmen Ereignisse, die dort passiert sind. Obwohl er sicher alles gewusst hat, da er war Oberstleutnant einer Fernmelder-Kompanie, die die Kommunikationsleitung gelegt und betrieben haben. Über die schlimmen Ereignisse hat er nie gesprochen. Mein Hingezogen sein ist so etwas wie Spurensuche, die natürlich heute nicht mehr zu finden sind. Heute stelle ich Fragen, die ich damals, als er noch lebte nicht stellen konnte. Es ist so eine innere Bewegtheit und Hingezogen sein. Was ist passiert, dass ich so ein Paket geerbt habe. Es ist immer wieder die Frage, woher kommt diese Prägung – vielleicht an das Vergessene – die Erinnerung, vergessene! Wir sind sicher auch Erben von Erinnerungen, die wir aus der Familie mit uns tragen. Als Ergänzung: es gibt eine Schachtel mit Bildern – und darin sind Bilder aus Kreta. Die Schachtel ist noch nicht geöffnet und damit Erinnerungen, die noch wirken.

Ist es nur der Reichtum oder auch Notsituationen oder auch schlechte Dinge.

R: Ich finde es richtig, dass wir uns vor bestimmten Erinnerungen schützen. Also eine Schachtel u.U. auch ungeöffnet zu lassen.

J: Da muss ich Dir widersprechen. Auch wenn ich sie nicht hervorhole, wirken sie dennoch in mir, in meiner Fantasie. Und vielleicht sieht es dann schlimmer aus, als sie tatsächlich sind. Ich würde es immer ans Tageslicht befördern wollen und mich damit auseinandersetzen.

R: Das sind verschiedene Strategien.

J: (erzählt von seinem Vater, der den 1. Weltkrieg als Soldat erlebt hat, und nie davon gesprochen hat). Ich finde, es gehört auch zu meinem Reichtum, dass ich auch an solche weniger schöne Bilder mich erinnere.

T: Warum kann man das als Reichtum bezeichnen? Es war eine sehr emotionale Reise dorthin, die heute zu einer der wichtigsten Reisen in meinem Leben gehört. Das wir die Dinge heute anders sehen können, ist das große Geschenk aus diesem Erinnern. Ich bekomme eine andere Verbindung zur Geschichte und zur Welt – und das ist der Reichtum, weil ich zu dem Ort, wie Du zu Kreta, eine andere Beziehung bekommen habe.

B: Ich glaube, der doppelte Reichtum bei Dir ist, das der Impuls von Deinem Sohn ausgegangen ist und dadurch eine ganz eigene Verbindung zwischen Euch entstanden ist, ein Austausch. Es ist etwas entstanden, was ihr miteinander austauschen könnt. Auch Mein Vater ist mit meiner Mutter noch einmal dorthin gereist, also ein Bedürfnis, diese Orte noch einmal zu besuchen. Es war zwar kein Austausch mehr mit mir – anders bei Euch, da Ihr Euch da miteinander austauschen könnt. Das schafft eine andere Verbindung.

T: Für mich ist damit noch einmal eine andere Verbindung zur Malerei entstanden. Ich plane ein Bild nicht, es muss aus der Hand herauskommen. Damit kommt viel mehr an die Oberfläche, als wenn ich es planen würde.

Der Rilke-Text sagt auch: die Erinnerungen müssen zu Fleisch und Blut werden und dann kann daraus ein Vers entstehen.

Das ist nur eine Seite. Katharinas Bilder verstehe ich nicht nur als Emotion. Sie thematisiert Bilder, die ihr wichtig sind.

E: Ihr seid so vielschichtig unterwegs. Man kann auch mit Bildern etwas vorwegnehmen, in die Zeit bringen – irgendwann wird das Bild Realität (erzählt von einem eigenen entworfenen und real dann erlebten Bild). Was bringt man durch eigene Bilder in die Zeit? (berichtet von seiner Affinität zu Portugal und der späteren Klärung, dass sein Vater dort früher gelebt hat, ebenso auch auf Kreta). Ich habe meinen Vater ausgefragt – weil ich ihn dazu gezwungen hat, darüber zu berichten.

Offene Auseinandersetzungsprozesse können einiges lösen! Gefühle an Orten haben eine Wirkung (eigenes Erleben vom Fliegen).

T: Die Kunst ist nicht nur eine Vergangenheitsbewältigung. Man ist im Malprozess unterschiedlich Einflüssen ausgesetzt ist. Sie können auch zukunftsweisend sein.

R: Du kannst nur aufgrund deiner Erfahrung eine Ahnung entwickeln.

Katharina kannst Du uns sagen, ob du in deinem Malprozess eher das Unbewusste rausholst? Oder bewusst dich mit aktuellen auseinandersetzt?

K: Zuerst noch zum dem Vorherigen: Ich glaube schon, dass wir sehr verbunden sind mit dem, was die vorhergehenden Generationen erlebt haben und was da passiert ist. Es gibt eine Verbindung – das drückt sich oft unterschiedlich aus. Ich kann es teilen, was Du vorhin gesagt hast. Ich kenne das auch. Es gibt sicher so etwas wie ein kollektives Bewusstsein, was geschichtlich passiert ist. Das schafft Verbindungen – auch zwischen Gegnern – eine Bindung. Und wir sind da mit eingebunden. Eine Form von Reichtum oder auch eine Bürde. Ich denke, wir werden nur reich, wenn wir in Bindung leben und uns dessen bewusst werden können. Wir tragen sicher noch Dinge in uns, die 2 / 3 Generationen vor uns passiert sind. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir Dinge vorhersehen können. Dass wir ein Gefühl davon haben, was auf uns zukommt – teilweise.

Wenn ich das auf meine Kunst beziehe, dann habe ich das Gefühl, dass es alles reinspielt, was mich aktuelle bewegt, was die Generationen vor uns gegeben habe oder was auf uns zukommt.

J: Alle Beiträge waren sehr wichtig. Wenn ich ein Schriftsteller wäre, würde ich ein Buch, ein dickes Buch schreiben – und ich würde es nennen: Väter. Das war heute Abend ein Thema, das durchgängig war.

E: Vergiss aber die Mütter dazu nicht. Väter werden nur Väter durch die Mütter.

K: Ich denke, dass es manchmal den Vätern nicht möglich ist, es in Worte zu fassen. Diese Abwesenheit, die dadurch entsteht, ist etwas Schlimmes für die Kinder, die das Vakuum erleben. Und gleichzeitig denke ich, dass es nicht anders möglich ist, oder möglich war, es mitzuteilen. Vieles hätte dann sicher auch noch die seelische Kraft überstiegen.

B: Vielleicht wurde auch über bestimmte Erinnerungen nicht gesprochen, weil die Bedeutung für die Nachkommen nicht gesehen wurde. oder sogar: wir müssen sie vergessen. Und erst dann werden die Erinnerungen, die da vergessen sind, wichtig, wenn sie aus einer anderen, späteren Situation betrachtet werden. Weil der Zeitpunkt kommt: jetzt wäre es wichtig zu erinnern, was da passiert ist.

E: (Bericht aus den Sonntagsdiskussionen am Familientisch) Wir haben den Umstand, dass unsere Eltern uns etwas mitgegeben haben, was sie verdrängt haben. Und wir verdrängen so lange, bis wir drauf gestoßen werden – und dann müssen wir uns damit auseinandersetzen. Wir müssen uns dafür öffnen.

T: Es ist für uns einerseits eine Bürde, aber es ist auch der Reichtum, den wir haben, weil wir alles anders erleben, auch das was in der Welt um uns herum passiert. Wir sehen die Dinge mit anderen Augen. Wenn wir das nicht hätten, würde uns etwas fehlen. Ich bin ziemlich aufmerksam für das was passiert.

J: Die Erinnerungen, die auftauchen in uns, die gehen in unseren Gehirn-Apparat herein und werden sofort verarbeitet. Wir machen etwas mit den Erinnerungen, stoßen sie weg oder greifen sie auf. Erinnerungen werden erst zu Reichtum durch die Bearbeitung.

T: Ich will dir da etwas widersprechen. Wenn Du den Rilke-Text noch einmal liest, dann steht da:

„Und es genügt auch noch nicht, dass man Erinnerungen hat. Man muss sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muss die große Geduld haben, zu warten, dass sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.“

Es ist mein ganzes Wesen, das bestimmt wird durch die Erinnerung.

J: Ich muss sie in ihrer Eigenschaft erkennen, willkommen heißen und mich damit auseinandersetzen können.

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Wir sind jetzt an einem Punkt nach 90 Minuten. Ein vielschichtiger Abend über die Väter, Mütter, Vorschau, Nachschau und das Vergessenen.

– Abschied – und Danke!